SCHWARZMARKT IM WARTEZIMMER // Kolumne Luzerner Zeitung 6.12.19 //

Eine mittlere Verletzung bei einem Bruder sahen wir damals als Kinder durchaus positv: Mehr Platz am Küchentisch. Ein Arztbesuch in den sechziger Jahren konnte nämlich dauern.  Man setzte sich ohne Anmeldung ins Wartezimmer, behandelt wurde der Reihe nach. Meistens. Wenn man auf ein Räderli Wurscht spekulierte, liess man auch mal den Metzgersburscht vor. Gemeinderat, Schreinermeister oder Näherin, alle mussten warten. Ausser so richtige Notfälle halt, blutig, hirngeschüttert oder wenn ein Fingerbeeri im Plastiksäckli mitgebracht wurde.

In den Siebzigern die Warteschlangenrevolution: Nümmerli. Kleine Aluschildchen, griffbereit neben der Tür. Menschen, für die Zeit auch Geld ist, schickten den Lehrbuben zum Abholen und begaben sich erst selber in die Praxis wenn sie glaubten, dass ihre Zahl an der Reihe wäre. Hörte man den VW Käfer des Landarztes auf Notfalleinsatz durchs Dorf knattern, rechnete man einfach dreissig Minuten oben drauf.

Das Beste: Es gab einen Schwarzmarkt. Marilyn Monroe – Name vom Autor geändert – tippelte oft nur zum Zeitvertreib frühmorgens zum Dokter und tauschte dann ihr einstelliges Nümmerli gegen kleine Gefälligkeiten mit Ungeduldigen:  Gipfeli, Bauernhof-Zvieri oder Tipp für ergiebige Heubeeristauden. Verglichen mit ihrer Blockwohnung war wohl die Lebensqualität im Wartezimmer höher: Interessante Diskussionen, Aquarium und echtes Hans-Erni-Bild.

Heute geht Marilyn am Stock, Hausärzte sterben aus. Die Menschen rennen in den Spitalnotfall und sollen bei Bagatellen schon bald fünfzig Stutz „Eintrittsgebühr“ zahlen. Gröbere Sachen bleiben gratis. Dramatisch, wenn sich dann ein Boboli-Patient, sobald der Arzt kassieren will, nur zum Sparen noch den Kopf an der Tischplatte gröber blutig schlägt.